IV: Von der Versicherung hin zum Almosen?

Die Invalidenversicherung (IV) stellt ein Minimal-System der Umverteilung von hohen zu den niedrigsten und prekärsten Einkommen dar. Es verwundert daher nicht, dass die Bürgerlichen durch die 6. IV-Revision wieder versuchen, diese Versicherung zu diskreditieren und abzubauen. Eine Versicherung, die aber unsere ganze Unterstützung verdient und vor allem braucht.

Die IV existiert seit 1960 und hat bis ins Jahr 1993 immer eine mehr oder weniger ausgeglichene Rechnung vorgewiesen, bevor ein stetig steigendes Defizit auftrat. Die Zunahme des Defizits war die Folge der Krise der 1990er Jahre und der Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, die mit dieser Krise einher ging. Die Bürgerlichen führen nun dieses Defizit ins Feld, um die Leistungen weiter abzubauen und um Jagd auf die «IV-BetrügerInnen» zu machen. Stattdessen müsste die untrennbare Beziehung zwischen den Lebens-und Arbeitsbedingungen der Menschen und der IV im Zentrum der Diskussion stehen. Die Invalidität wird in unserem System der Sozialversicherungen als eine ökonomische Grösse betrachtet. So gibt eine Krankheit kein Recht auf eine Rente. Nur wenn sie die Beschäftigungsmöglichkeiten dauerhaft verringert, rechtfertigt sie eine Rentenzahlung. Auf dem aktuellen Arbeitsmarkt gibt es viele Menschen, die aufgrund ihres Gesundheitszustands ohne berufliche Perspektiven sind. Sie fordern logischerweise eine IV-Rente. Dies ist besonders bei wenig qualifizierten Arbeitenehmerinnen der Fall. Dies auch der Grund, dass die AusländerInnen unter den Invaliden überrepräsentiert sind. Sie machen einen Anteil von 35 Prozent der Invaliden und 30 Prozent der Rentenzahlungen aus, sind aber nur rund 20 Prozent der Bevölkerung. Unter den ArbeiterInnen und Arbeitssuchenden sind sie proportional zahlreicher als die SchweizerInnen vertreten. AusländerInnen verrichten häufiger schwere und wenig qualifizierte Arbeiten, haben häufiger Lücken in ihrer Ausbildung und weniger Kenntnisse der deutschen Sprache. Hinzu kommt die Tatsache, dass sie bei Einstellungen oft diskriminiert werden.

Verschärfung der Praktiken

Die ersten Veränderungen waren nicht spektakulär. In der Praxis wurde eine härte Gangart eingeschlagen, jedoch ohne die Gesetzgebung anzupassen. Seit 2003 sinkt die Zahl neuer Renten kontinuierlich und rapid: von 28 100 neuen LeistungsempfängerInnen im Jahr 2002 auf 16 600 im 2008, was einem Rückgang von etwa 40 Prozent entspricht.
Der Bund beglückwünscht sich zu dieser Leistung, aber die benutzten Mittel glänzen nicht. Grund dieses Rückgangs ist ein neues System zur Bestimmung der Renten, das über den Umweg von Regionalen Medizinischen Diensten (RMD) funktioniert. Die IV hat so ein Netz von ExpertInnen unter ihrer Kontrolle aufgebaut, das die Versicherten kurz untersucht und ihnen dann einen negativen Bescheid gibt. Dieser medizinischen Begutachtung kann so formell nicht widersprochen werden und sie geniesst das Vertrauen der Richter. Jedoch entfernen sich die Gutachten der IV-ExpertInnen regelmässig von der Realität der Versicherten und ihrer behandelnden Ärzte. Mehrere Skandale stellen die Objektivität dieses Systems in Frage: Von 2006 bis 2008 war der Chef des RMD Zürich ein ehemaliges führendes Mitglied einer rechtsextremen Partei in Deutschland. Nachdem die Affäre in der Presse aufgedeckt wurde, hat die IV ihren Angestellten entlassen, seine Entscheidungen aber nie in Frage gestellt oder zumindest überprüft. Der RMD in der Westschweiz hat seinerseits Expertisen von unabhängigen Psychiatern zu Rate gezogen. Dabei besonders geschätzt war ein Experte, der für seine strengen Urteile gegenüber den Versicherten bekannt war. Trotz der mehrjährigen Kritiken anderer Ärzte und von SozialarbeiterInnen, hat der RMD die «unabhängigen» Expertisen dieses Mediziners weiter berücksichtigt. 2007 hatte dieser Psychiater die Rekordzahl von 141 Aufträgen für Expertisen vom RMD erhalten, was wohl mehrere Hunderttausende Franken an Honorar bedeutete. Trotz allem hat seine Meinung juristisch mehr Gewicht als die des behandelnden Arztes, welcher der Parteilichkeit zugunsten seines Patienten, sprich des Versicherten, verdächtigt wird!

Schlag auf Schlag

Die 5.IV-Revision trat am1. Januar 2008 in Kraft und dies mit dem klaren Ziel, die neuen Rentenzahlungen zu verringern. Seit diesem Zeitpunkt werden die Renten nur ab einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent ausgezahlt. Was dies bedeuten kann? Eine Verkäuferin mit einer Anstellung zu 100 Prozent verdient 3500 Franken im Monat. Wird sie nun zu 40 Prozent arbeitsunfähig, kriegt sie keine Rente und muss von 60 Prozent ihres Einkommens leben. In diesem Fall sind es keine 2000 Franken im Monat. Ausserdem gibt es keine Renten mehr für die LebenspartnerInnen von Invaliden. Etwas mehr als ein Jahr nach der letzten Reform begann der Bundesrat die Planung für die 6.IV-Revision, die zu einem massiven Sparpaket ivon über einer Milliarde Franken jährlich werden soll. Unter anderem sollen bestehenden Renten gekürzt oder gar ganz gestrichen werden können. Die Folge davon ist, dass viele Betroffene in die Sozialhilfe abgeschoben werden.

Doppelt so hohe Sterberate

Die IV wandelt sich in ein Gebiet, im dem der Missbrauch bekämpft wird. Dies analog dem Asylrecht. Auch hier wurden in einem ersten Schritt die Verwaltungen gedrängt, härter vorzugehen: So wurde die Anzahl der Prüfung der Anträge reduziert und die Entscheidungszentren räumlich von den AntragstellerInnen getrennt. Die anschliessenden Gesetzesreformen haben dann immer dazu geführt, die Anforderungen gegenüber den AntragstellerInnen zu erhöhen, ihre Möglichkeiten zu verringern und die Entscheidungsfreiheit der Verwaltung zu erhöhen. Durch diese Vorgänge passen sich die Statistiken dem politischen Willen an. So wie das Asylrecht substanziell ausgehöhlt wurde und wird, so werden die Invaliden immer weniger geschützt.
Wir müssen daher an die soziale Dimension der IV erinnern, die aus verschiedenen Aspekten besteht: Das allererste Ziel dieser Versicherung ist es, den Personen, die ihre beruflichen Aktivitäten nicht fortführen können, ein Minimaleinkommen zu sichern. Jedoch betrifft Invalidität vor allem manuelle Arbeiter und solche mit geringer Qualifikation. Die Studien von Gubéran und Usel (2000) zeigen, dass die nur teilweise oder nicht qualifizierten ArbeiterInnen zehn Mal häufiger arbeitsunfähig werden als freie Berufe und WissenschaftlerInnen (25.4 Prozent gegenüber 2.1 Prozent). Das Risiko passt sich der Qualifikation an, je höher die sozioprofessionellen Kategorien, desto geringer das Risiko der Invalidität. Die Studie von Gubéran und Usel ruft auch einige gesundheitliche Realitäten in Erinnerung: Je weniger man qualifiziert ist, desto höher das Sterberisiko vor dem 65. Lebensjahr und die Sterberate der Invaliden ist doppelt so hoch wie die der Gesunden.

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