«Und doch sind wir immer noch da!»
70 Jahre Partei der Arbeit der Schweiz – PdAS! Ein toller Anlass, um mit dem Parteipräsidenten Gavriel Pinson ein ausführliches Gespräch über die Geschichte, die Aktualität und die Zukunft der PdAS zu führen. «Wir wollen den Kapitalismus überwinden! Das ist unser wichtigster Kampf, das dürfen wir nie vergessen!», hält dabei Genosse Gavriel Pinson fest.
Aus der vorwärts Sonderausgabe «70 Jahre PdAS» vom 25. Juli 2014
Lieber Genosse le président, stell dich bitte kurz vor, damit die vorwärts-LeserInnen wissen, mit wem sie es auf den nächsten eineinhalb Seiten zu tun bekommen.
Zuerst möchte ich alle grüssen, alle GenossInnen und SympathisantInnen, ganz einfach alle, die diese Sonderausgabe des vorwärts lesen. Ausserhalb der Parteiinstanzen habe ich leider nicht so oft die Gelegenheit, mich an unsere deutschsprachigen GenossInnen zu wenden.
Ich bin 58 Jahre alt, Grossvater, Heilpädagoge und Familientherapeut. 1994 bin ich der PdA beigetreten und gleich Kantonalsekretär des POP-Waadt geworden. Politisch aktiv wurde ich Anfang der 70er Jahre. Damals gab es eine Spaltung der POP-Jugend, zwei Gruppen formierten sich, die maoistische ML-Richtung und die TrotzkistInnen. Ich war bei den ML. In jener Zeit schien mir die PdA eine Schar von Revisionisten zu sein, abhängig von Moskau. Vor allem politisch hatte ich Differenzen mit der Partei. Als ich in den 1980er Jahren nach einem sehr langen Auslandaufenthalt in die Schweiz zurück kam, hörte ich Jean Spielmann in einer Fernsehdebatte und begriff dabei gleich, dass der Ton sich verändert hatte. Aber der Beitritt erfolgte viel später als ich im Rahmen einer Kommission zur Drogenabhängigkeit Marianne Huguenin kennen lernte. Sie war damals Stadtpräsidentin von Renens und Ärztin. Als sie meine politischen Stellungnahmen hörte, schlug sie mir vor, der Partei beizutreten. Für mich als Kommunisten gibt es nur die PdA als Trägerin meiner Aspirationen, eine bessere Welt zu schaffen, befreit von der kapitalistischen Diktatur. Eine Welt, in der die Menschen die Möglichkeit haben, sich zu entfalten, unabhängig ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, der sozialen Klasse, der Nationalität oder Hautfarbe. Für mich ist sehr klar: Wir repräsentieren die einzig mögliche Zukunft für die Menschheit! Andernfalls wird der Kapitalismus in seinem ungebremsten Profitstreben am Ende unseren Planeten zerstören.
Nenne uns bitte die für dich fünf wichtigsten Ereignisse in der 70jährigen Geschichte unserer Partei und sag auch, warum du diese gewählt hast.
Für mich ist die wichtigste Errungenschaft der Partei, dass es sie nach 70 Jahren noch gibt. Es mag seltsam erscheinen, dies so zu sagen und erst noch an erster Stelle. Doch seit unserer Gründung 1944 haben die Bürgerlichen und Reaktionäre aller Richtungen nie aufgehört, unseren Tod anzukündigen, zu wünschen. Sie haben alles versucht, damit dieser Wunsch Realität wird. Man muss sich daran erinnern, was unsere GenossInnen der ersten Stunde aufgrund ihres politischen Engagements durchstehen mussten. Neben der Fichierung durch die politische Polizei – welche es wohlverstanden nach wie vor gibt – gab es Berufsverbote, Wohnungskündigungen, all das, was man damals «die schwarze Guillotine» nannte. Ich habe einen immensen Respekt für diese AktivistInnen der ersten Stunde, und ich verbeuge mich mit Bescheidenheit vor ihrem Mut. Ein paar unter ihnen leben noch. Sie sind inzwischen sehr alt, doch nach wie ihrer Überzeugungen treu geblieben. Das zeigt, wenn man das Herz auf dem linken Fleck hat, kann man alt werden. Klar zu nennen sind unsere grossen politischen Siege, angefangen bei der AHV. Mehr noch, ich würde sagen, dass alle grossen sozialen Fortschritte der Zeitgeschichte auf unsere Partei zurückgehen. Sie sind oft in einem zweiten Schritt von der SP übernommen worden, sogar von den Freisinnigen, und diese haben dann deren Vaterschaft reklamiert. Doch, ob in der Schweiz oder in Europa, die Gleichstellung von Mann und Frau, die bezahlten Ferien, die Reduktion der Arbeitszeit, die Verteidigung der Rechte der MigrantInnen, der Kampf für den Frieden und gegen die imperialistischen Kriege, gegen die Atomwaffen, all diese Kämpfe sind von uns ausgegangen. Es sei auch daran erinnert, dass wir die Ersten waren, welche die Rückgabe der herrenlosen Vermögen und das Ende des Bankgeheimnisses gefordert haben. Auch die öffentliche Krankenkasse hat ihren Ursprung bei uns. Ich könnte noch manche weiteren Kämpfe aufzählen. Bei manchen sind wir ans Ziel gekommen, bei anderen noch nicht, aber wir sind auch noch nicht am Ende unserer Geschichte, oder der Geschichte im Allgemeinen.
Welche politischen Kämpfe der PdAS waren für dich denn die wichtigsten?
Ich denke nicht, dass die einen Kämpfe wichtiger sind als die anderen. Alle unsere Kämpfe sind edel und legitim. Unsere Partei – und das ist es, was ihre Stärke ausmacht – hat eine globale Sicht auf die Menschen und die Gesellschaft, in der wir leben. Wir haben ein Projekt, das klar und zugleich unser Motto ist: Wir wollen den Kapitalismus überwinden! Das ist unser wichtigster Kampf, das dürfen wir nie vergessen. Es ist ein langfristiger Kampf, aber am Ende werden wir siegen, daran habe ich keinerlei Zweifel!
Worauf bist du stolz in der Geschichte der Partei?
Da habe ich keine Zweifel, die Antwort ist einfach: Auf ihre aktiven GenossInnen. GenossInnen, die so viel gegeben haben ohne etwas dafür zu erwarten. Sie taten und tun es einfach für die Sache, an die sie geglaubt haben. In meinen Augen ist das ganz ausserordentlich, dieser Mut und diese Selbstlosigkeit sind historisch. Wir heute und die zukünftigen Generationen dürfen dies nie vergessen.
Worauf bist du weniger stolz?
Selbstverständlich gab es in der Vergangenheit auch Irrungen und Fehler. Vergessen wir nicht, dass unsere GenossInnen unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg mit einer antikommunistischen Hysterie konfrontiert waren, die es übrigens noch immer gibt, wenn auch in veränderter Form. Zu Beginn des Interviews habe ich kurz meine politische Vergangenheit erwähnt. Ich habe damals die Kulturrevolution und das Demokratische «Kampuchea» unterstützt. Wir hatten nicht alle Informationen, die wir heute haben. Aber wenn dies zu revidieren wäre, würde ich es revidieren. Im Nachhinein ist man immer klüger! Unsere Gründungsmitglieder haben lange Zeit geglaubt, dass die Sowjetunion das Paradies des Sozialismus wäre. Wie können wir ihnen dies übel nehmen angesichts der Brutalität unserer kapitalistischen Formen und der Repressionen, deren Opfer sie waren? Ich stehe zur Geschichte unserer Partei, nicht bloss ohne mich zu schämen, sondern mit ganz grossem Stolz.
1989 war ein bedeutendes Jahr für die sozialistische/kommunistische Bewegung. Welche Auswirkungen hatte es auf unsere Partei? Was waren dazumal die grössten Schwierigkeiten?
Damals war es schon einige Jahre her, dass sich unsere Partei von der Vormundschaft des «grossen Bruders» emanzipiert hatte. Ich denke, dass nach 1989 bei manchen unserer GenossInnen – trotz der eher historischen als politischen Enttäuschung – das Gefühl dominierte, nicht mehr «an einer Leine zu sein». Dennoch, wenn ich das sage, kann ich mir gut vorstellen, dass es auch solche gab, für welche die Desillusionierung immens gewesen sein muss, vielleicht sogar ein Gefühl, betrogen worden zu sein.
Wie ist die Partei mit diesen Schwierigkeiten umgegangen?
Genau daran kann man die unglaubliche Kraft der Partei, unserer AktivistInnen, unserer Überzeugungen messen oder einfach erkennen, dass wir Überzeugungen haben. In diesem Zeitpunkt der Geschichte haben die KapitalistInnen, welche sich als SiegerInnen des Kalten Krieges wähnten, behauptet, die Kommunistische Bewegung wäre am Ende … und doch sind wir noch immer da! Aufrecht! Und wir wissen auch : sie werden vor uns verschwinden. Während der ganzen Geschichte der Kommunistischen Bewegung wussten wir uns anzupassen, wenn nötig, neu zu erfinden.
Seit 1989 sind genau 25 Jahre vergangen. Wie siehst du die Entwicklung der PdA in dieser Zeitspanne? Was hat sie gut gemacht, was hat sie weniger gut gemacht?
Das ist vermutlich die einzige Kritik oder Selbstkritik, denn – wie ich es schon gesagt habe – ich stehe zur Geschichte unserer Partei, einschliesslich der Zeit, in welcher ich noch nicht Mitglied war. Wahrscheinlich dauerte nach 1989 der Rückzug auf sich selbst zu lange. Es war so etwas wie eine Teufelsaustreibung, als ob wir uns selbst eine «Sünde» zu vergeben hätten, für etwas, für das wir nicht verantwortlich waren. Dies in dem Sinne, dass es nicht wir waren, welche die Volksrepubliken verwaltet haben. Während zu langer Zeit waren wir in der Öffentlichkeit abwesend und dies hat der unabdingbaren Erneuerung unserer Mitgliedschaft geschadet.
Du bist seit etwa acht Monaten Präsident der PdAS. Was ist deine erste Bilanz über die PdAS? Konkret: Was hat dich positiv überrascht? Was enttäuscht?
Zuerst möchte ich meinen Stolz darüber wiederholen, dieser Partei anzugehören und ihr Präsident zu sein. Ich finde, wir haben in den letzten Monaten grosse Fortschritte gemacht. Das macht mich für die Zukunft sehr zuversichtlich. Als ich 2012 ins Zentralkomitee (ZK) zurückgekehrte, haben wir zu viel Zeit damit verbracht, uns zu streiten. Dies über gewisse Divergenzen, die wir auf der Ebene der politischen Analyse haben könnten. Theoretische Divergenzen, doch das Leben der Menschen besteht nicht «bloss» aus Theorie. Seit ein paar Monaten lachen wir wieder miteinander, sowohl im ZK als aus auch in der Parteileitung. Für mich ist dies eine grundlegende Veränderung. Sie zeigt, dass wir uns wieder darüber freuen können, zusammen zu sein. Ohne diese Stimmung ist es völlig ausgeschlossen, unsere Überzeugungen weiterzugeben. Wie können wir glaubhaft machen, dass eine andere Welt möglich ist, wenn wir unsere Zeit mit streiten verbringen? Damit verlieren wir unsere ganze Glaubwürdigkeit. Darüber hinaus sprechen wir nun von konkreten Projekten, was ein grosser Fortschritt ist. Es zeigt, dass wir Kommunistinnen Projekte haben, die echte Zukunftsprojekte im Dienste der Bevölkerung sind. Persönlich habe ich nicht viel zu diesen Veränderungen beigetragen.
Anlässlich unseres letzten Parteitages in Genf wurde aufgrund unserer finanziellen Situation erwogen, die Sekretariatsposten auf nationaler Ebene aufzuheben. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Das Leben unserer Partei wird vollumfänglich von der Sekretärin und dem Sekretär, Amanda und Siro, getragen, ohne sie würde unsere Partei schlicht nicht funktionieren. Ich würde mir wünschen, dass wir auf allen Ebenen, den Lokal- und Kantonalsektionen und der PdAS das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Wir sind nicht bloss GenossInnen, wir gehören zur selben Familie. Leider habe ich manchmal noch den Eindruck, dass in den Lokalsektionen ein Gefühl vorhanden ist, sich gegen die Kantonalsektion stellen zu müssen und auch gegen die PdAS. Wenn es in einer Familie so funktioniert, endet es damit, dass es zur Scheidung kommt und man nicht mehr miteinander spricht. Seien wir daher achtsam, denn wir alle haben unseren Teil der Verantwortung.
Welche sind die aktuellen Herausforderungen für die PdAS?
Die wichtigste Herausforderung besteht darin, neue, aktive Mitglieder zu gewinnen. Wir müssen es ganz klar aussprechen: Wir sind nicht zahlreich genug, angesichts der Menge Arbeit, welche zu tun ist. Einen zu grosser Anteil dieser Arbeit liegt nach wie vor auf den gleichen Schultern. Wir müssen darauf achten, dass wir jene Aktiven, die sich engagieren, nicht zu sehr belasten. Das ist eine Aufgabe der Sektionen. Die PdAS kann kleine Impulse geben, indem sie präsent und lebendig ist, aber die Hauptaufgabe liegt bei den Kantonalsektionen. Eine andere Herausforderung ist, bei den Leuten auf der Strasse viel präsenter zu sein. Jeden Samstag überall Stände zu haben, Flugblätter zu verteilen, Unterschriften zu sammeln, mit der Bevölkerung zu diskutieren. Auch dafür muss die Zahl der aktiven Mitglieder erhöht werden. Die Bevölkerung muss uns überall und immer sehen. Die dritte Herausforderung besteht darin, konkrete Aktivitäten zu entwickeln. An Kämpfen in und mit Gewerkschaften teilnehmen, in Vereinen, eigene Volksinitiativen lancieren. Im Kanton Waadt haben wir eben unsere Initiative zur Rückerstattung der Zahnpflegekosten geschafft. Über 18 000 Unterschriften haben wir in vier Monaten gesammelt! Es ist nicht allein diese Zahl, die wichtig ist. Zum ersten Mal seit langem kamen die Leute an unseren Sammelstand und bedankten sich für das, was wir taten. Es ist dieses Vertrauen der Bevölkerung zu uns, das wir erneut aufbauen müssen.
Was ist die Stärke der Partei zum aktuellen Zeitpunkt?
Wir haben solide Überzeugungen und unsere Aktivitäten sind uneigennützig. Keine Aktivistin, kein Aktivist unserer Partei hat im Sinn, sich persönlich zu bereichern. Wir sind ehrlich und sagen die Wahrheit. Dies ist weder bei den Machtträgern noch bei den bürgerlichen Parteien, nicht einmal bei den Sozialdemokraten – man müsste wohl eher sagen Sozialliberalen – der Fall.
Und wo sind die Schwächen? Wie können diese aus der Welt geschaffen werden?
Ich wiederhole es, unsere grösste Schwäche ist, nicht zahlreich genug zu sein und noch kein genügend entwickeltes Zusammengehörigkeitsgefühl zu haben. Die unterschiedlichen Analysen innerhalb der Partei stören mich überhaupt nicht, sofern die Konfrontation der Ideen respektvoll geführt wird. Ich denke sogar, dass wir an der Konfrontation wachsen können, in der gleichen Weise, in welcher ein Kind es nötig hat, sich mit Erwachsenen zu konfrontieren, um zu wachsen und Autonomie zu erlangen.
Welche Rolle müsste die Partei haben?
Sie müsste das Auffangbecken werden für alle Hoffnungen der Bevölkerung. So sehe ich die Rolle einer Partei wie der unsrigen.
Wird es in Zukunft eine PdA in der Schweiz brauchen?
Aber sicher! Solange es Ungerechtigkeit gibt, sei diese in der schweizerischen Gesellschaft oder anderswo auf der Welt, wird es Menschen wie uns brauchen, die für eine gerechte Welt kämpfen. Selbst wenn wir ἀ- oder die uns nachfolgende Generation – eine sozialistische Gesellschaft geschaffen haben werden, wird der Kampf weitergehen. Es wird dann darum gehen, nicht auf den Lorbeeren einzuschlafen, sondern sich immer wieder neu zu erfinden. In meiner Arbeit habe ich mit meinen «Klienten» Diskussionen über den Nutzen von Erfahrungen. Wir haben bereits die Erfahrung von Revolutionen, die von Hoffnungen getragen waren. Und wir haben die Erfahrung von enttäuschten Hoffnungen. Damit Erfahrungen Nutzen bringen, reicht es, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Wenn dich eine junge Frau oder ein junger Mann fragt, warum sie oder er gerade in die PdA aktiv werden soll, was antwortest du ihr oder ihm?
Wenn du einen Ort betreten möchtest, wo die Mitgliederbeiträge nicht zu hoch sind, komm zu uns. Wenn du bereit bist, viel zu geben und wenig dafür zu erhalten, komm zu uns. Wenn du einverstanden bist, früh morgens aufzustehen, um Flugblätter zu verteilen, um dafür abends spät zu Bett zu gehen, um an Versammlungen teilzunehmen, dann bist du bei uns an der richtigen Stelle. Wenn du bereit bist, dich von der politischen Polizei fichieren zu lassen, dann komm zu uns …
Und jetzt noch ernsthaft: Wir sind sexy, allen voran natürlich der Präsident. Dazu kommt, dass wir die einzigen sind, welche eine echte Hoffnung gegen alle Formen von Ungerechtigkeit in dieser Welt repräsentieren. Und um biblisch zu schliessen: Gott weiss, wie zahlreich diese sind.
Danke, lieber Genosse le président für dieses ausführliche und spannende Interview!
Danke dir Genosse. Ich möchte mit einem Aufruf schliessen: Kommt zahlreich zum 70-Jahr-Fest nach Le Locle am 29. und 30. August! Es wird ein sehr schönes Fest werden.