Der Zürcher Generalstreik von 1912

Genau am Erscheinungstag dieser vorwärts-Ausgabe vor 116 Jahren fand in Zürich der Generalstreik statt. Über 20’000 ArbeiterInnen nahmen an der Demonstration teil. Die Repression war gewaltig: Das Volkshaus wurde militärisch besetzt, der Vorstand der Arbeiterunion verhaftet, städtische Angestellte entlassen und 13 Streikführer ausgeschafft. Aus dem vorwärts vom 12. Juli 2018.

Freitag, 12. Juli 1912: Der Zürcher Generalstreik beginnt um 9.00 Uhr mit einer Protestversammlung im Quartier Aussersihl, an der über 20 000 ArbeiterInnen teilnehmen. Es folgt eine beeindruckende, friedliche Demonstration durch die Stadt. Am Nachmittag hält Robert Grimm, der 1918 eine treibende Kraft des Landesgeneralstreiks sein wird, eine Rede vor 18’000 Menschen. Der Tramverkehr ist durch die Besetzung der Depots lahmgelegt. In der ganzen Stadt ist es ruhig. ArbeiterInnenfamilien geniessen den Tag, als sei es Sonntag. Sie spazieren in der Bahnhofstrasse oder picknicken in den Parks. Auf Anordnung der Streikleitung, die jegliche Eskalation unbedingt verhindern will, herrscht während des ganzen Tages in den ArbeiterInnenkneipen ein striktes Alkoholverbot. Der Generalstreik verläuft ohne Zwischenfälle.

Die bürgerliche Presse lügt
Die ArbeitgeberInnen und der bürgerliche Staat schlagen mit voller Härte zurück. Bereits am 12. Juli verkünden die Bosse eine zweitägige Aussperrung für Samstag, 13. Juli, und Montag, 15. Juli, als Vergeltung. Drei Füsilier-Bataillone und eine Kavallerieschwadron, etwa 3000 Soldaten, werden aufgeboten. Sie haben den Auftrag, für «Ruhe und Ordnung» zu sorgen. Zudem haben die Zürcher Behörden auf den 12. Juli 1912 bereits ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot erlassen und «die Massregelung streikender städtischer Beamter» angekündigt. Doch Verbote und Drohungen nützen nichts gegen die Kampfbereitschaft und Entschlossenheit der Zürcher ProletInnen. So verstärken die Behörden ganz im Sinne der ArbeitgeberInnen die Repression: Im Anschluss an den Generalstreik erfolgen polizeiliche Hausdurchsuchungen bei allen Sekretariaten der ArbeiterInnenorganisationen in der Stadt.
Aufgeheizt wird das bereits brodelnde Klima durch die Lügen in der bürgerlichen Presse. Am 15. Juli ist in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) zu lesen: «Der Generalstreik hat zu dem Ende geführt, das die Einsichtigen unter den sozialistischen Gewerkschaftern vorausgesehen hatten. Der Regierungsrat hat sich gezwungen gesehen, die ultimo ratio der Staatsgewalt anzuwenden, ein Truppenaufgebot zu erlassen und dem wüsten Treiben der Streikenden und ihrer anarchistischen Inspiratoren und Helfershelfer durch ein allgemeines Verbot der Streikposten, aufrührerischen Versammlungen und Demonstrationszügen zu begegnen. Seither herrscht Ruhe! (…) Die Ausweisung der am meisten kompromittierten Ausländer wird die Regierung ohne Zweifel von sich aus ohne weiteres verfügen. (…) Unsere geschädigte und schwer beleidigte Bevölkerung zu Stadt und Land verlangt ein unnachsichtiges Vorgehen.»
Am gleichen Tag wird das Volkshaus von Polizei und Militär besetzt, der Vorstand der Arbeiterunion verhaftet und das offenbar als Revolutionszentrale wahrgenommene Gebäude fünf Stunden lang durchsucht, jedoch ohne Erfolg, denn wichtige Dokumente zum Generalstreik wurden zuvor von jungen Arbeiterinnen herausgeschmuggelt.
Erst am Dienstag, 16. Juli, wird die Arbeit in der Stadt Zürich allgemein wieder aufgenommen. Am folgenden Tag entlässt die Kantonsregierung die aufgebotenen Ordnungstruppen. Und am 18. Juli wird die Aufforderung der NZZ umgesetzt: Es erfolgt die Ausweisung von 13 Ausländern, die sich beim Streik führend beteiligt haben, und die Streikführer beim städtischen Personal werden entlassen.
Doch hier zeigt sich, wie wichtig und von zentraler Bedeutung die Solidarität für den Klassenkampf ist: Rasch wird ein Unterstützungskomitee für die Entlassenen und Angeklagten gebildet. Bereits in den ersten drei Wochen nach dem Generalstreik werden rund 10 000 Franken Spendengelder gesammelt. Am 24. Juli 1912 findet im Velodrom in Wiedikon eine grosse Protestversammlung gegen die Massregelungen statt, an der sich 4000 ArbeiterInnen beteiligten. Das Komitee wird bis 1915 aktiv bleiben.

Ausmass des Klassenkonflikts
Interessant ist die Berichterstattung von Leonard Ragaz, führende Persönlichkeit der religiösen SozialistInnen. Sie ist ein Mix aus Wut, Enttäuschung und Angst, was wohl die Stimmung der ArbeiterInnen jener Jahre bestens widerspiegelt. Ragaz schreibt in der Augustausgabe 1912 der Zeitschrift «Neue Wege»: «Vor dem Volkshausplatz galt es Halt zu machen, denn da blitzten die Bajonette. Der weite Platz, mit allen seinen Zugängen, war abgesperrt, kein Durchkommen möglich. Eine nicht sehr grosse Menschenmenge staute sich vor dem Militärkordon an. Mich überlief eine heisse Flut von Zorn. So weit also waren wir gekommen! Wieder war’s mir wie im Märchen. Und das liess man sich gefallen? Warum war die Menge so still? Sie musste wohl, denn jede Bemerkung gegen die überirdische Heiligkeit der Militäruniform führte zu sofortiger Verhaftung. (…) Alles still. Aber diese Stille dünkte mich unheimlicher als sogar Aufruhr; denn über dieser schwebte der Dämon des Bürgerkriegs. Diese Tat des Bürgertums wird böse Folgen haben …»
Der eintägige Zürcher Generalstreik im Juli 1912 wurde allgemein als eine Kraftprobe zwischen Unternehmen und ArbeiterInnen empfunden, wie man sie in der Schweiz in diesem Ausmass noch nie erlebt hatte. Doch wie kam es dazu? Auf einen Streik der MalerInnen und SchlosserInnen für Arbeitszeitverkürzung auf neun bzw. achteinhalb Stunden antworteten die UnternehmerInnen mit bewaffneten StreikbrecherInnen, die aus dem Deutschen Reich geholt wurden. Die Gegenmassnahme der ArbeiterInnen bestand im Aufstellen von Streikposten. Als daraufhin ein Streikbrecher einen der streikenden ArbeiterInnen, die ihn zur Arbeitsniederlegung zwingen wollten, mit einem Revolver erschoss, verlangten die Patrons ein Streikpostenverbot, die ArbeiterInnen dagegen ein Verbot der Einfuhr von StreikbrecherInnen. Der Stadtrat erliess ein teilweises Streikpostenverbot, worauf die Zürcher Arbeiterunion in einer Urabstimmung bei allen Gewerkschaften mit überwältigendem Mehr die Durchführung eines eintägigen Generalstreiks beschloss. Das Resultat war beeindruckend: 6367 stimmten für den Generalstreik, 812 dagegen.

SGB gegen Generalstreik
Der Generalstreikgedanke wurde in der Zeit nach 1900 in der internationalen ArbeiterInnenbewegung diskutiert, vor allem nach der gewaltigen Streikwelle während der russischen Revolution von 1905. Die revolutionären SyndikalistInnen (auch AnarchosyndikalistInnen genannt), die besonders in Frankreich Einfluss gewannen, vertraten die Ansicht, dass die bürgerliche Gesellschaft auf dem ökonomischen Sektor bekämpft und besiegt werden müsse. Die grossen ArbeiterInnenparteien hingegen stellten den politischen Kampf in den Vordergrund.
Der erste Generalstreik in der Schweiz fand im Oktober 1902 in Genf statt. Er war die Folge von einem Arbeitskonflikt bei der Strassenbahn, die sich in privatem, britischem Besitz befand und deren amerikanischer Manager ältere Angestellte durch jüngere, billigere Kräfte ersetzen wollte. Nach Massregelungen gegen streikende StrassenbahnerInnen löste der Genfer Gewerkschaftsbund einen Generalstreik aus. Etwa 15 000 Personen schlossen sich dem Ausstand an. Die Regierung bot 2500 Soldaten auf. Nach drei Tagen und zahlreichen Zusammenstössen zwischen Demonstrierenden und Ordnungstruppen wurde der Generalstreik erfolglos abgebrochen. Rund 100 StrassenbahnerInnen verloren ihre Stelle. Nach Ende des Generalstreiks fand in Genf ein Parade der Ordnungstruppen statt.
Der Generalstreik hatte in der Schweiz vorwiegend spontanen Charakter. Von Bedeutung ist jedoch Folgendes: Er war immer die Antwort der Basis auf die Politik der ArbeiterführerInnen, die Reformen im Parlament und am Verhandlungstisch erreichen wollten. Die Vorgeschichte zum Zürcher Generalstreik beweist dies auch. So hatte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) bereits an seinem Kongress 1906 den Generalstreik als Kampfmittel abgelehnt. Der SGB war der Meinung, dass dieser nur dann zum Erfolg führen könne, wenn die grosse Mehrheit der Arbeitenden organisiert sei – und dies war natürlich nicht der Fall.

Brupbacher gegen Greulich
Doch an der Basis gingen die Diskussionen über Generalstreik weiter. An der Delegiertenversammlung der Arbeiterunion Zürich vom 6. Mai 1909 sprach sich Fritz Brupbacher für den Generalstreik aus, während Hermann Greulich die Gegenposition einnahm. Auszüge aus der Rede Brupbachers: «Was für Gründe liegen denn vor, dass diese Idee heute zur mächtigen Massenidee werden könnte? Hauptsächlich war es die Schwierigkeit, bei Streiks die Streikbrecher aufzuhalten, weil der Staat es immer mehr verhindert. Der Staat ist reaktionärer geworden. Wir müssen die Organisation immer noch weiter ausbauen, die Zahl der Organisierten vermehren, die Kassen stärken, aber auch den Geist zur Aktivität vorbereiten. (…) So müssen wir uns ökonomisch und psychologisch vorbereiten auf den Generalstreik und schliesslich auch auf die grossen Expropriation, die doch einmal erfolgen muss, damit wir den reichen Herrschaften ihre Reichtümer nehmen.»
Auszug aus der Rede Greulichs: «Widersprechen muss ich dem Genossen Brupbacher vor allem in der Auffassung, dass das Mittel des Generalstreiks eine Art Universalmittel von unvergleichbarer grösserer Kraft sei, als dies bisher von der kämpfenden Arbeiterschaft angewendete. (…) Grundstürzend kann auch ein Generalstreik heute nicht sein. Die Zeit muss in allem erst reif werden. Stets wurde der Generalstreik das erste Mal belohnt; bei seiner Wiederholung versagte er als Kampfmittel.»
Fritz Brupbacher ging als Sieger hervor, denn an der folgenden Delegiertenversammlung vom 10. Mai wurden nach reger Diskussion sechs Generalstreikthesen einstimmig angenommen. These 6 lautete: «Unter den genannten Bedingungen ist der Generalstreik ein wirksames Kampfmittel der Arbeiterschaft dem Klassenstaat gegenüber, das freilich alle bisher angewandten Mitteln nicht überflüssig macht, sondern sie nur ergänzt.» Die Annahme der Thesen waren als klares Zeichen der Radikalisierung der ArbeiterInnen an der Basis zu verstehen und dies gegen den Willen der Führung des SGB. Die sechs Thesen bildeten praktisch die politische Grundlage für den Generalstreik in der Limmatstadt vom 12. Juli 1912.